Mach' Deine Leidenschaft nicht zum Beruf!

Diesen Rat gab mir mein Großonkel Werner Pöhlandt, seines Zeichens damals Violonist am Gewandhausorchester Leipzig und Saxophonist in einer Jazz-Band. Ein guter Rat für mich eifrig musizierende Jugendliche – ich habe mich beruflich der Chemie zugewandt, bin der Musik in meiner Freizeit treu geblieben - und habe beides bis heute nicht bereut.
Und trotzdem:
wie arm wäre unsere Welt, wenn nicht immer wieder junge Musikerinnen und Musiker sich entscheiden, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen – was heißt, entscheiden: viele meine Musiker-Freundinnen und -Freunde erzählen (oft selbst ein wenig verwundert), dass es damals ganz klar und quasi alternativlos gewesen sei: ein Musikstudium und anschließend viele Anläufe in der Hoffnung auf einen Platz in einem Orchester, einem Chor, idealerweise vor Mitte 30. Nicht allen gelang das…
Die ersehnte feste Stelle im Chor, im Orchester: Sicherheit! Planbarkeit! Finanzielle Grundlage für die (geplante) Familie. Weiterlernen von und mit den erfahreneren Kolleg:innen, Repertoire aufbauen, Kondition und Routine entwickeln. Und eben täglich der Leidenschaft frönen.
Für uns Zuhörer:innen im Publikum ist ein Konzert dann immer ein einmaliges, besonderes Erlebnis, wenn der Funke überspringt, die Magie sich entwickelt. Und doch vertrauen mir gerade erfahrene Musikerinnen und Musiker an, wie es sie fordert, die Leidenschaft zu bewahren. Nicht in der reinen Routine zu versinken. Sich zur 17. Wiederholung der Missa Solemnis zu motivieren. Viele Musiker kennen das, jede und jeder geht damit anders um. Und dann kommen Spannungen un
ter den Kolleg:innen dazu, Dirigenten, die so ganz anders arbeiten als gewohnt, ein nerviges Miteinander, weil >60 Menschen selten im völligen Einklang sind. Private Stolpersteine, und und und…
Und doch sind diese Menschen jeden Abend wieder gefordert, in feinster Abstimmung im Zehntelsekundenbereich mit den Kollegen zu agieren, sensibel der Führung durch das Dirigat zu folgen, wach und neugierig zu bleiben – und idealerweise voller Hingabe und Leidenschaft zu musizieren.
So kommen wir dann ins Denken und Experimentieren: Kann man sich Leidenschaft irgendwie systematisch erhalten, pflegen? Oder muss sie einfach DA SEIN? Welche Faktoren belasten, bedrohen meine Leidenschaft, was kann ich zwischen Diensten, Üben, Mucke tun, um schlicht Raum und
Energie für meine Hingabe und Leidenschaft zu bewahren?
Warum ist das überhaupt ein Thema für so viele Musikerinnen und Musiker?
Weil sie wissen, dass es genau die Leidenschaft ist, die sie als Violonistin, Oboist oder Tenor besser macht. Weil sie mit der Leidenschaft ihr Potential und Talent immer umfassender „abrufen“ und ausbauen können. Und weil es sie schlicht glücklich macht. DAFÜR sind sie Musikerinnen geworden. Deshalb dieser Beruf – oder besser: die Berufung.
Was ich aus den Begleitungen mitnehme?
Dass der bewusste,
konstruktive Umgang mit solch einem hochemotionalen Thema dieses keineswegs „verkopft“ oder schmälert, sondern im Gegenteil hervorhebt und stärkt.
Dass die Thematik der Leidenschaft und Hingabe nicht nur in der Musik, sondern auch – idealerweise – in vielen anderen Berufsfeldern eine große Rolle spielen kann.
Und, dass Hingabe, so passiv es klingt, solch ein wohltuendes und nährendes Wort ist, das ich immer wieder aufgreifen möchte für Themen, die mir am Herzen liegen.
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