Von individuellen Landkarten und der immergleichen Ansprüchen, das einzig Wahre zu vertreten.

„Ich mache mir die Welt wide-wide-wie sie mir gefällt“
singt Pippi Langstrumpf im gleichnamigen Jugendroman von Astrid Lindgren. Was gern als Ausdruck von Pippis kindlich-schlauem Revoluzzer-Gen verstanden wird ist schlicht ein Kernelement unserer menschlichen Psyche.
Wir nehmen die Welt, Ereignisse, andere Menschen… mit unseren (individuellen) Sinnen wahr und gleichen sie sofort ab mit gespeicherten Erfahrungen, Wissen, Ähnlichkeiten, Unterschieden, mit unserer Kultur, unserer Erziehung…: also mit einem hochindividuellen Konstrukt, das einzig bei mir in dieser Form existiert. Dabei filtern wir vermeintlich Unwichtiges aus, betonen unsere Vorlieben und Präferenzen – und gestalten uns so eine Landkarte der Wirklichkeit, die EINMALIG ist: meine Landkarte auf die Welt, die Wirklichkeit.
In der Psychologie fasst man diese Funktionsweise unseres Gehirns als Konstruktivismus zusammen – wir konstruieren uns eine SICHTWEISE auf die Welt als Ergebnis unserer Sinneseindrücke, Erfahrungen, unserer eingeübten Muster und Wünsche.
A propos Wünsche: umgekehrt „funktioniert“ der Konstruktivismus natürlich auch, das heißt, unsere Erwartungen, Wünsche, Vorlieben und Abneigungen lenken unsere Wahrnehmung. Wenn wir erwarten, am Lagerfeuer am Abend sicher bald zu frieren, wird der erste kleine Luftzug schon als massiv störend empfunden. Wenn wir uns hingegen intensiv freuen auf den romantischenFlirt mit dem neuen Kollegen – dann wird der kühle Wind wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen.
Ganz wichtig: DIE LANDKARTEN SIND EXTREM ERFOLGREICH.
Unsere Fähigkeit, Relevantes von weniger Relevantem zu trennen und uns ein Bild der Wirklichkeit zu machen, das uns handlungsfähig hält, war und ist für unsere menschliche Entwicklung extrem wichtig – nur deshalb sind wir heute da, wo wir als Menschheit sind. Gäbe es die Fähigkeit des Filterns und Bewertens äußerer Eindrücke nicht, säßen wir wohl immer noch panisch ob der unfassbaren Fülle von Bedrohungen in einem tiefen Erdloch – wenn überhaupt.
Wo ist jetzt das Problem mit meiner Landkarte?
Meine Landkarte – oder auch meine Sicht auf die Dinge, Situationen, Menschen – gibt mir Handlungs- und Verhaltensstrategien, häufig in Mustern und Ritualen fest verankert und bewährt – zumindest früher einmal. Was aber, wenn sich die Umgebung massiv verändert hat? Wenn meine Handlungsstrategien nicht mehr so richtig zu den heutigen Anforderungen passen? Um in unserer Landkarten-Metapher zu bleiben: Wie kann ich das Haus meines Freundes in München mit einem Stadtplan von 1970 finden? Oder, noch schwieriger: wie finde ich besagtes Haus – mit einem Stadtplan von Hamburg?
In der systemischen Beratung haben wir die Bedeutung des Konstruktivismus tief verinnerlicht – und schaffen bei unseren Klient:innen zuallererst ein Grundverständnis für diese Funktionalität unseres Gehirns. Nicht unbedingt, indem wir darüber eine psychologische Abhandlung zitieren – sondern indem wir Raum und Bewusstsein für die individuellen Sichtweisen schaffen. Wir haben verstanden, dass jede Sichtweise einen guten Grund oder viele gute Gründe hat. Jedes Muster war irgendwann einmal extrem erfolgreich, jede Routine hat einen Kontext, in der sie perfekt passt.
Durch Ausprobieren – ich spreche gern von Experimentieren – und durch angeleitete Erweiterung der Perspektive lassen sich IMMER alternative Handlungsstrategien finden. Dabei ist es wichtig, klar zu benennen, dass diese Alternativen erstmal nicht BESSER sind, sondern schlicht anders. Wir müssen damit unsere Erfahrungen machen, überprüfen, ob sie im Alltag tragen, sie anpassen, erweitern… also damit experimentieren. Unser Gehirn merkt sofort, wenn eine andere Strategie leichter fällt, weniger Druck, Verbissenheit und Stress auslöst.
Und dann ändert sich unser Verhalten. Vielleicht nur ein kleines Bisschen – aber spürbar. Und das legt den Grundstein für weitere Veränderungen.
PS: WER verändert hier eigentlich?
Immer und ausschließlich die/der Klient:in. Der Gestaltungsraum und die Verantwortung ist zu jeder Zeit zu 100 % bei der „Besitzer:in“ der Landkarte. Und da bleibt sie auch!
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