Wie eine erweiterte Perspektive Gestaltungsräume eröffnet

Schwarz-weiß ist eine immer wieder sehr beliebte Sicht auf die Dinge: Ja oder Nein, richtig oder falsch, dabei oder nicht dabei. Oder, ganz menschlich: für mich oder gegen mich, Durchblickerin oder Idiotin, Experte oder Ahnungsloser.
Wen verwunderts, der oder die bis hierhin Beiträge meines Blogs gelesen hat: die Welt ist nicht schwarz-weiß, sie ist bunt. Mit (physikalisch gesehen) allen Wellenlängen und damit Farben des elektromagnetischen Spektrums. Manchmal auch „nur“ grau, oder gleichzeitig schwarz und weiß.
Um die Farb-Metapher nicht über Gebühr zu belasten: Es geht wieder einmal um unsere individuelle Sichtweise, unsere Perspektive auf die Dinge (siehe auch Meine Wahrheit, Deine Wahrheit). So gern wollen wir sie als das einzig Wahre verstanden wissen – und so oft schränkt sie unseren Blick auf die Welt eher ein.
Die allermeisten Menschen, mit denen ich über diese Thematik spreche, verstehen unmittelbar die Logik hinter der individuellen Landkarte, hinter dem Prinzip des Konstruktivismus. Sie haben allerdings ihre Sichtweise so tief verinnerlicht, so oft eingeübt und so selten selbstkritisch darauf geschaut, dass es natürlich sehr schwer fällt, auch und vor allem emotional von dieser wahrgenommenen Wahrheit Abstand zu nehmen, andere Sichtweisen zuzulassen, vielleicht sogar als die angemessenere zu akzeptieren.
In meiner Beratung gehe ich an diese verengte Sichtweise gern über die körperliche Wahrnehmung heran: „Was spürst Du, wenn Du Dich an eine typische Situation mit X erinnerst?“ Die Antworten auf diese Frage fällt den meisten recht leicht, sie schildern körperliche Wahrnehmungen wie „Hitze steigt in mir auf“, „Ich fühle einen Druck auf der Brust“ oder „Ich merke, wie ich die Schultern hochziehe, die Hand zur Faust balle“ oder ähnliches. Wenn das körperliche Gefühl recht präsent ist, biete ich rein experimentell („Wir probieren jetzt mal was aus!“) einen ganz anderen Gedanken bzw. eine andere Sicht auf die Dinge an – manchmal sogar eine recht kuriose Sicht, es darf auch mal ein bisschen verrückt sein. Viele Klient:innen fangen spontan an zu grinsen, kichern ein wenig, sagen verschämt „Das ist ja total gaga“ – und entspannen spürbar. Wir vertiefen spielerisch auch diese neue Herangehensweise (siehe Beispiel unten) und ich schließe das Experiment ab mit der Frage „Wie hat sich der neue Gedanke angefühlt?“ Wieder benennen die Klient:innen möglichst ausschließlich körperliche Wahrnehmungen „Musste spontan lachen“, „Konnte plötzlich wieder tief atmen“ oder „Hat sich innerlich viel leichter angefühlt“. Voilà!
Bitte beachten:
Mit dieser kleinen Intervention haben wir KEINEN neuen Gedanken eingeübt, verankert oder sonst etwas – die Klientin, der Klient ist nur ins Wahrnehmen und Erleben gekommen, was es bedeutet, eine andere Sichtweise anzunehmen. Und wieder ist die andere Sicht nicht besser, wertvoller, gar RICHTIGER – aber sie existiert. Damit ist ein wichtiger erster Schritt gemacht, ein „Sowohl – Als auch“ zuzulassen.
Einfach, weil es sich besser anfühlt.
PS: Die Kunst der Intervention
liegt hier in der Auswahl einer klar benannten und damit für das Experiment gut geeigneten, eher engen Sichtweise. Sie braucht eine klare emotionale Komponente, darf aber nicht zu tief „an die Substanz“ gehen, da sonst eine eher paradoxe Intervention als Geringschätzung oder gar Abwertung der eigenen Sichtweise wahrgenommen wird – dann wäre das Vertrauen in die Beraterin sofort weg.
Ein Fallbeispiel:
Eine Klientin klagt über ihre Teamkolleg:innen: in den Augen der Klientin sind die alle „viel zu locker“, sie nehmen die Arbeitsaufträge nicht so richtig ernst und wenn mal etwas (viel zu oft!) schief geht, sagen sie höchstens „Schwamm drüber“. Die Klientin selbst verteidigt gegenüber der Beraterin ihr eigenes Pflichtbewusstsein und ihren Hang zur Perfektion, ist stolz, dass sie fast keine Fehler macht und berichtet mit Überzeugung, dass der Chef diese Fehlerfreiheit explizit bei ihr schätze. Zudem berichtet sie von Überlastungserscheinungen, die sich v.a. auch körperlich bei ihr zeigen, von ihrer Mühe, abends die Arbeit loszulassen, nie wirklich Abstand zu gewinnen „weil ja so vieles nur an mir hängen bleibt!“. Mit etwas Nachfragen berichtet sie von ihrem Ausbilder, dessen Stimme sie innerlich hört „Du musst perfekt sein!“
Ihr Wunsch an die Beraterin: Wie kann sie den anderen Teammitgliedern beibringen, ebenso pflichtbewusst und fehlerfrei zu arbeiten wie sie?
Ich bitte sie an dieser Stelle, sich an eine solche typische Situation aus der nahen Vergangenheit zu erinnern und mir zu beschreiben, was sie dabei körperlich empfindet. Spontan antwortet sie mit Gedanken und Beurteilungen, freundliches mehrfaches Nachfragen (!) nach körperlichen Wahrnehmungen liefert dann auch diese zügig (Verspannung, Rückenschmerzen, kurze stoßweise Atmung etc.).
Jetzt kommt das Gedankenexperiment: Ich bitte die Klientin, sich vorzustellen, dass sie den Gedanken „Ich muss perfekt sein“ nicht mehr denken kann. Die innere Stimme, die Erinnerung an ihren Ausbilder, sind einfach aus ihrem Gedächtnis „ausradiert“. Punktuelle Amnesie nenne ich das – und sie lacht zum ersten Mal.
„Dann würde ich mir auch keinen Kopf machen!“ kommt als erste spontane Aussage. Und dann „Mei, das wäre aber schnell das Chaos hier!“. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen auf diese Amnesie reagieren will ich wissen. „Au weia, dann müssten die ja ran! Noch mehr Chaos“ – und so schmücken wir uns die neue Situation noch ein wenig aus.
Abschließend die Frage, wie es ihr jetzt körperlich gehe? Da wird sie wieder vorsichtig, ahnt, wo ich hinwill, gibt aber ehrlich zu, dass sie sich viel lockerer fühle. „Aber ich kann doch nicht…“ setzt sie zur ursprünglichen Rechtfertigung an – da greife ich gleich ein und wir richten nochmals den Blick darauf, dass der eigene Gedanke „Ich muss perfekt sein“ der Ursprung für die Belastung und das schlechte Gefühl war – was eine GUTE Nachricht ist, denn dann kann ich mich entscheiden, auch andere Gedanken zuzulassen und zu schauen, wie es mir mit diesen Alternativen geht.
Wichtig: ich „verordne“ als Beraterin keine anderen Gedanken, das kann ich gar nicht (im Gegensatz zu vielen Life Coaches, die die vermeintliche Wahrheit kennen und ihren Klient:innen für viel Geld verkaufen) – ich zeige nur auf, dass diese Gedanken, so berechtigt sie sind, unsere Wahrnehmung einer Situation lenken – und dass es andere, alternative Gedanken gibt, die schlicht weniger belastend sind.
Und nochmals wichtig: aufmerksame Leser:innen haben bemerkt, dass ich dem Wunsch der Klientin an mich als Beraterin NICHT nachgekommen bin - weil es unmöglich ist, die anderen zu verändern, insbesondere im Arbeitskontext. Und weil der Wunsch bzw. dessen Erfüllung die verengte Sichtweise der Klientin quasi "zementiert" hätte, was nie zielführend ist. Anstatt ihr mein Vorgehen im Detail (und vermeintlich logisch) zu erklären, bin ich gleich eingestiegen und habe sie unterstützt, bewusst und offen mit der Situation umzugehen. Eine erste zarte, entlastende Erkenntnis darf sich im Nachgang unserer Beratung noch vertiefen.
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